Laufbericht : Biel

Mein sehr persönliches Biel 2008 von Angela Grässer
Irgendwann im Winter hab ich in der Badewanne das Buch über die 100 Gedanken von Biel
gelesen und hatte für mich beschlossen, „in Biel werde ich niemals laufen“; das muss so
Anfang des Jahres 2008 gewesen sein, möglicherweise kurz vor oder kurz nach meinem
ersten Lauf über die mich bis dahin magische Marathon-Grenze. Wie es genau dazu kam,
dass ich in der Karwoche 6 Tage auf dem Rheinsteig war, lässt sich im Nachhinein nicht
mehr wirklich erklären, ich hab jedenfalls beschlossen, meinen Bruder dafür und für vieles
danach verantwortlich zu machen.
Nach einem Dreitageslauf über den Querweg an den Bodensee saßen wir zusammen (Rolf
und Brigitte Mahlburg, Angelika Schumacher und ... wie könnte es auch anders sein mein
Bruder Meinrad und das Gespräch kam auf Biel und mein Interesse war geweckt, der
Größenwahn wach geworden.
In den Wochen danach hatte ich es dann doch wieder vergessen, die Zweifel wurden lauter
und mein Bruder war unfallbedingt außer Gefecht; in einem Anfall von ... was auch immer,
hörte ich mich irgendwann einmal in einem Telefonat mit Meinrad sagen (der immer noch
lädiert war): „ wenn Du in Biel läufst, laufe ich mit ...“ und so kam es dann auch. Eine Woche
vorher teilte Meinrad mir mit, dass er nach Biel wolle und ich musste mein Versprechen
halten.
Was folgte war eine Woche voller wirrer Gedanken, Zweifel, Vorfreude, Angst, Zuversicht,
Neugier und das alles lustig durcheinander gemixt, aber zu spät war’s für ein Zurück, ich
hätte es ja auch nicht wollen oder doch?
Irgendwann war’s dann soweit, Freitag der 13. Juni, den Morgen hab ich mit Aufräumen,
Putzen, Einkaufen verbracht, meine Sachen gepackt und nicht wirklich ans Laufen gedacht,
hab mich ins Auto gesetzt und Jan abgeholt. Jan sollte unser treuer Begleiter, Coach,
Fahrer, Tröster sein. Die nächste Station war bei meinem Bruder und dann ging’s wirklich
los. Munter haben wir über die Läufe der vergangenen Wochen und Monate geplaudert, die
wir teilweise gemeinsam, z.T. auch unabhängig voneinander gemacht haben, wir haben uns
Strategien ausgedacht, wie wir die 100km aufteilen, dass wir zusammenbleiben wollen,
solange das irgendwie geht, ... muntere Theorie, gute Vorsätze, Mut zugesprochen.
So verging die Zeit wie im Fluge, bei mir machte sich Neugierde breit, weniger Aufregung,
denn ich war ja bis dahin noch nie einen offiziellen Lauf mit Wertung und Zeitnahme
gelaufen, ... ein paar Ultras hatte ich zwar im Gepäck (auch über mehrere Tage), aber ich
war eben doch eine Anfängerin und so hab ich mit großen Augen und offenem Herzen die
Atmosphäre aufgenommen: die Zelte, bei denen wir Freunde und Bekannte trafen, das
Ganze drum herum.
Ich war stolz, die Startunterlagen zu bekommen, zum ersten Mal eine Startnummer, ... und
wie bekomme ich die fest? Und wo? .... mein Bruder denkt ja an alles (spätestens jetzt weiß
ich, wofür große Brüder gut sind, auch wenn sie einem nach Biel bringen), also dafür sind die
Sicherheitsnadeln.
Besondere Freude und großes Hallo gab’s als wir Joachim Siller trafen, unseren Lauffreund
vom Rheinsteig und anderen Laufendhelfen-Veranstaltungen und schließlich dem Wissen,
dass die Bodensee-Truppe komplett an den Start gehen würde, ... für mich fühlte sich das
gut an, vermittelte mir Sicherheit, fast schon Geborgenheit, die erfahrenen LäuferInnen um
mich zu wissen, war sehr wichtig für mich, auch wenn mir klar war, dass ich im Zweifel allein
laufen würde, aber irgendwo da draußen in der Nacht könnte ich die anderen wohltuend
spüren.
Später dann saß ich beim Auto auf der Isomatte, alles war dennoch so unwirklich, war es
tatsächlich so, dass ich wenige Stunden später mit Hunderten anderer in die Nacht hinaus
laufen würde? Was war geschehen, dass ich in den letzten Monaten so viel gelaufen bin?
Ich hatte Höhen und Tiefen, tolle und gelungene Läufe, Verletzungen, aber der unbedingte
Wille, weitere km zu bewältigen, die eigene Grenzen zu verschieben; ich war bis Biel noch
nie weiter als 70km gelaufen, würde ich auch 100km schaffen?
Im Grunde bin ich eine großartige Zweiflerin, die nicht wirklich an sich glaubt, selbst wenn ich
Dinge bewältige, gleichwohl bin ich ehrgeizig und hartnäckig im Beruf wie auch im Sport,
setze mich selbst schon mal unter Druck und bekomme zuletzt Angst vor der eigenen
Courage oder dem, was andere mir zutrauen. Wie also würde diese Nacht werden, was
würde ich erleben, welche meiner inneren Anteile würden die nächsten Stunden bewältigen,
wie würden sich Ehrgeiz und Zweifel, Mut, Verwegenheit und Erschöpfung, Hartnäckigkeit
und Hoffnungslosigkeit miteinander und aneinander reiben, wie wird sich das anfühlen, wenn
die Beine müde werden und die Nacht noch lange ist? Ist es nicht auch eine Reise ins
Innere, eine Möglichkeit der Selbstreflexion der besonderen Art? Welche Seiten meiner
Selbst lerne ich heute nacht kennen? Selbsterfahrung mal nicht im Rahmen einer
therapeutische Zusatzausbildung, ...
Jäh werde ich aus meinen Gedanken gerissen, Meinrad fängt an, sich umzuziehen, ich
denke: „ Es ist doch noch endlos viel Zeit, ich schweife noch in Gedanken“, aber dann lasse
ich mich doch anstecken und creme meine Füße ein, ... mein Hang zu Blasenbildung ist
gigantisch.
Wir treffen die letzten Absprachen mit Jan, der uns teilweise mit dem Auto, teilweise mit dem
Fahrrad begleiten wird und überlegen noch, ob wir wegen des doch sehr kalten Windes die
Jacken mitnehmen und dann gehen wir los, holen Brigitte, Rolf, Joachim, Uta und Stefan in
der Zeltstadt ab und bewegen uns langsam, ja fast bedächtig in Richtung Start.
Ich spüre, dass die Spannung steigt, aber es fühlt sich gut an, ich fühle mich gut, mache
Scherze, witzle rum, lache herzhaft darüber, dass die andern mir eine Zeit um 12,5 Std.
zutrauen und nehme die Atmosphäre von Biel in mir auf. Die Spannung steigt weiter,
innerlich scharre ich mit den Füßen, will los und gleichzeitig auch weg, habe Angst vor den
nächsten langen Stunden und höre Jan sagen: „Wenn Du da morgen hier reinläufst, fange
ich wieder mit dem Laufen an.“ Na, wenn das kein Grund ist!
Die letzten Minuten werden angezählt, die Sekunden und die Menge setzt sich erst stockend
und dann fließend in Bewegung
Mein Gedanke bei Km 1: „Angela, jetzt läufst Du also wirklich in Biel!“
Joachim, Meinrad und ich laufen nah beieinander, wir haben Übung darin, so haben wir
schon einige Km auf dem Rheinsteig zugebracht, es fühlt sich vertraut an. Ich spüre sofort,
dass ich keine Schwierigkeiten mit dem Anlaufen habe, die Beine sind frisch, ich freue mich
über die Zuschauer in der Stadt, ein guter Start.
So laufen wir in der Menge allmählich aus der Stadt hinaus, wir sprechen nicht viel, ich weiß
nicht, was in den anderen vorgeht, ich genieße die Ruhe und spüre meinem Laufrhythmus
nach, ich bin schnell, die Atmung ist ruhig, der Puls niedrig, beste Voraussetzungen.
Nach den ersten Km frage ich Meinrad, wie’s bei ihm läuft; er ist nicht zufrieden, die
Muskulatur ist nicht frei, das Einlaufen ist beschwerlich. Ich denke darüber nach, dass er
wegen des Fahrradunfalls praktisch 6 Wochen nicht laufen und sich kaum vorbereiten
konnte, aber ich kenne meinen Bruder und weiß einerseits, dass er über eine gigantische
Fitness verfügt und andererseits auch hart im Nehmen ist, ich bin mir sicher, er wird es
schaffen. Joachim läuft in seinem leichtfüßigen Stil, um den ich ihn sehr beneide, ... bei mir
sieht das dann doch weniger elegant aus.
Ich nehme die Km-Angaben wenig wahr, ich bin auf der Strecke, schaue in die Nacht und
laufe, ... offenbar weiterhin sehr schnell, entgegen unserer Idee, von Anfang an langsam zu
laufen und immer wieder zu walken. Mir entgeht, dass Meinrad gerne langsamer laufen
würde, mir ist auch nicht wirklich bewusst, wie flott ich das Tempo mache.
Die ersten Verpflegungsstellen kommen, zuviele Menschen tummeln sich und wollen sich
stärken, Gedränge, ... ich trinke kurz und weiter geht’s.
Die ersten 20km vergehen wie im Flug, ich verliere das Zeitgefühl, ich laufe und vermutlich
denke ich auch über alles mögliche nach, aber ich weiß es im Nachhinein nicht mehr, ich
lasse mich treiben und laufe, laufe und ... spüre, dass mit meinem Magen etwas nicht
stimmt. Habe ich Hunger? Oder Durst? Ich kann es nicht genau sagen, ich laufe weiter,
immer noch sehr schnell, ... zu schnell? Das ungute Gefühl im Magen verstärkt sich, es ist
weder Hunger noch Durst, es sind Krämpfe, dumme Sache aber auch, wird schon vorüber
gehen. Einen komischen Magen hatte ich schon ab und an, das geht normalerweise schnell
vorbei, also einfach weiterlaufen.
Wir walken die Anstiege, ich habe weiterhin supergute Beine, ich spüre aber zunehmendes
Ziehen in der Magengegend, bekomme Schwierigkeiten mit meiner sonst so ruhigen
Atmung.
Km 30: das ist also Biel, Schmerzen und Durchhalten
Angelika läuft zu uns auf und erkundigt sich nach unserem Befinden, mein Bruder erzählt,
dass er seine Beine einfach nicht freibekommt, ich drücke mich unscharf aus, sage aber
nichts über mein zunehmendes Unwohlsein.
Die Diskrepanz zwischen meinen Beinen und meinem Magen wird immer größer, ich muss
mir eingestehen, ich habe heftige Magenkrämpfe, verspanne mich und beschließe meinen
Begleitern zu sagen, dass ich in Schwierigkeiten bin.
Wir verlangsamen das Tempo, walken, aber da ist’s noch schlimmer als beim Laufen, Puls
und Atmung geraten jetzt auch durcheinander, ich versuche ruhig zu bleiben, nicht zu
verkrampfen, mich auf die schönen Lichter in der dunklen Nacht zu konzentrieren, auf die
Menschen am Straßenrand, die uns zuwinken und anfeuern und schon zieht sich der Magen
wieder zusammen, ich nehme die vorbeieilenden LäuferInnen wahr, Hilfe! Wir werden
überholt, ich bremse meine Begleiter aus, das kann doch alles nicht wahr sein! Die nächste
Verpflegungsstelle will ich nutzen, um etwas Brot zu essen, vielleicht beruhigt sich der
Unruhestifter ja wieder, hoffe ich zumindest, ... es geht mir richtig schlecht, mir ist kalt, ich
bekomme das trockene Brot kaum runter und ich setze mich auf den Boden, was Meinrad zu
dem Satz verleitet: „Da muss ich doch glatt ein Foto machen, das glaubt sonst keiner.“ Mir ist
nicht nach Späßen zumute, der Gedanke ans Aussteigen blitzt auf, ich will ihn
verscheuchen, wegjagen, niederringen, ich bin nicht nach Biel gekommen, um nach 35km
aufzuhören.
Ich stehe also auf, nachdem mir klar geworden ist, dass ich die Jungs nicht los werde, sie
wollen bei mir bleiben, was mir einerseits lieb ist, mich andererseits aber sehr unter Druck
setzt, denn ich muss das Tempo drosseln und habe Angst, den beiden die Zeit zu
vermasseln. Die Energie heftig zu widersprechen habe ich allerdings auch nicht, ich füge
mich in das Schicksal 100km Biel.
Wir kommen nicht gut voran, mir ist inzwischen nur noch elend, ich bin brustabwärts nur
noch verspannt und habe Schmerzen, schleppe mich zur nächsten Verpflegung, Jan fährt
mit dem Rad schweigsam hinter uns, er spürt, dass ich am Ende bin, er kennt mich gut und
ahnt, dass ich jetzt v.a. auch wütend bin, weil verzweifelt, er lässt mich in Ruhe.
Km 38: hier ist eine „offizielle“ Ausstiegsmöglichkeit – aber nicht für mich!!!
Weiter laufen wir, ich weniger aufrecht, die Schmerzen zermürben mich, der Gedanke an
den Ausstieg lässt mich nicht mehr los, immer noch sind meine treuen Jungs bei mir, lassen
mich nicht im Stich, aber ich weiß jetzt auch, dass sie ohne mich weitermüssen, wollen sie
ihre Planungen umsetzen.
Wir haben Jan gebeten, mit dem Rad umzudrehen und das Auto zu holen, falls ich bei der
nächsten Verpflegung raus gehe.
Km 45: Heulend am Straßenrand
Ich schaffe es noch bis zur nächsten Verpflegung, weiß aber, dass Biel 2008 für mich hier zu
Ende ist. Ich bin wütend, traurig, habe weiterhin Krämpfe und sitze heulend am Straßenrand.
Biel hat eigene Regeln und gute Beine allein reichen nicht aus, ich bin gescheitert. Woran?
An mir selbst? Habe ich nicht wirklich daran geglaubt, dass ich es schaffen kann?
Meinrad und Joachim verabschieden sich, ich wünsche beiden ganz viel Glück, wir
verabreden uns bei der nächsten Verpflegungsstelle, denn auch meinem Bruder geht es
nicht wirklich gut.
Nun spüre ich die Einsamkeit, obwohl da so viele Menschen sind, ich fühle mich nun wirklich
allein in dieser Nacht, ohne meinen großen Bruder, ohne Joachim in seiner wunderbaren
ruhigen Art und seinem trockenen Humor. Ich sitze da und sage mir: „Angela, Du hast es
nicht geschafft, zum ersten mal in Deinem Läuferleben hast Du etwas nicht geschafft und es
fühlt sich schrecklich an“. Es ist 4Uhr morgens, nach 6Std. ist Biel für mich zu Ende.
Ich warte auf Jan, spreche kurz mit Brigitte, erfahre dabei, dass auch Rolf draußen ist, ...
aber es ist mir kein Trost, ich überlasse mich dem Schmerz im Magen und starre vor mich
hin. Ich ahne, dass mich dieses Scheitern noch länger beschäftigen wird.
Ich schicke eine sms an meinen Liebsten: „Biel ist für mich zum läuferischen Alptraum
geworden, ich bin raus.“
Endlich kommt Jan, neben der Erleichterung, einen Freund zu sehen, gesellt sich auch der
Wunsch mit meinen Gedanken allein zu sein. Die tröstende Umarmung lässt mir weitere
Tränen der Enttäuschung, des Schmerzes und der Wut in die Augen schießen, na prima das
heulende Elend.
Im Auto bitte ich Jan zur nächsten Verpflegung zu fahren und schließe die Augen, versuche
mich zu fassen und zu entspannen, noch immer tobt ein Kampf in der Magengegend, ich
spüre die Erschöpfung und friere schrecklich. An die beiden nächsten Verpflegungsstellen
erinnere ich mich nur noch schemenhaft, in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen,
Schmerzen und Erschöpfung beginne ich mit meinem Bruder zu leiden, der schwer mit den
Beinen zu kämpfen hat, aber er kämpft ...
Wir fahren also jede Verpflegung an, ich will nicht nach Biel zurück, will Meinrad nicht
zurücklassen, will „auf der Strecke bleiben“ und spüre allmählich, dass es in meinem Magen
ruhiger wird, ich kann wenigstens ein wenig schlafen.
So werde ich auch aus den Schlaf gerissen irgendwo bei
Km 70: es ist eben doch noch nicht zu Ende
Irritiert merke ich, dass Jan aus dem Auto ausgestiegen ist, sehe Meinrad und erschrecke.
Er sitzt am Auto, sieht schrecklich erschöpft aus, ich fange an, die Rücksitzbank
freizuräumen, damit er sich hinlegen kann, glaube aber nicht wirklich daran, dass er aufgibt,
ich kenne meinen Bruder; wir sprechen kaum, ich erfahre, dass Joachim weiterläuft und höre
mich sagen: „wenn es Dir hilft, laufe ich mit Dir zu Ende“
Ohne viel zu überlegen, stopfe ich ein Käsebrot in mich hinein, ziehe die Schuhe wieder an,
für das Versorgen meiner Blasen bleibt keine Zeit, auch nicht für das Auffüllen meiner
Wasserflasche, schon sind wir wieder auf Strecke. Ich bin wieder dabei und bin froh darüber.
Nun ist es mein Ziel und mein Vorsatz, mit Meinrad zusammen über die Ziellinie zu laufen.
Er leidet schrecklich und ist so zäh, ich ziehe auf den folgenden Km immer wieder den Hut
vor so viel Kampfgeist und mentaler Stärke und frage mich unterwegs, ob ich nicht doch zu
früh aufgegeben habe. Aber das zählt jetzt nicht, jetzt liegen noch beinahe 30km vor uns und
das vermessene Ziel, doch noch unter 15 Std. zu bleiben.
Mein Magen ist zwar nicht gänzlich versöhnt mit mir, aber er hat beschlossen, den Kampf
nicht nocheinmal mit mir aufzunehmen, er zwickt hin und wieder, ist aber im Großen und
Ganzen ein freundlicher Geselle. Meine Beine sind immer noch prima, nicht müde, wollen
laufen, ich muss aufpassen, das Tempo so zu gestalten, dass wir zwar voran kommen, aber
Meinrads verbleibenden Kräfte gut einteilen.
Km 80: wir werden das schaffen
Zwischendurch unterhalten wir uns über Ideen zu künftigen Läufen, planen, schwatzen und
schweigen, rechnen innerlich, ob uns die Zeit wohl reicht, dabei ist’s doch komplett egal,
Hauptsache ankommen, ... unter 15Std. halt.
Um 9Uhr kommt ein Anruf meine Liebsten, ich kommentiere knapp: „Ich bin wieder auf der
Strecke und das ist gut so“, wirklich überrascht ist er nicht, sagt mir, dass er stolz auf mich ist
und dass ich auf mich aufpassen möge; es tut gut ihn gehört zu haben und zu wissen, er
versteht, dass man manchmal vielleicht unvernünftige Dinge tut, diese aber sehr wichtig
sind.
Meinrad kämpft sich weiter und weiter, an jeder Verpflegungsstelle wartet Jan auf uns,
versorgt uns mit Neuigkeiten von Joachim, der gut voran kommt und grüßen lässt.
Es wird allmählich warm, ich ahne, dass Meinrad darunter jetzt besonders leidet, es fällt mir
schwer, ihn leiden zu sehen, aber ich weiß, dass Aufgeben nicht wirklich in Frage kommt,
ahne aber, dass dieser Gedanke sich in seinem Kopf breit macht, er darf aber unter keinen
Umständen ausgesprochen werden, wenn der Flaschengeist erst einmal befreit ist, treibt er
sein Unwesen, also weiter gehen, walken, immer wieder auch laufen.
Ich habe beinahe ein schlechtes Gewissen, denn es geht mir gut, meine Beine fühlen sich
frisch an, immer noch, das gibt’s doch gar nicht, der Zorn kommt zu Besuch, verflixt und
zugenäht, da bin ich so gut in Form und muss trotzdem aufgeben, halt nein, ich laufe wieder
und es macht gerade richtig Sinn: wir wollen gemeinsam ankommen und das ist jetzt das
einzige, was zählt.
Km 85: Versöhnung
Ich merke, wie ich allmählich meinen Frieden mache und mein möglichstes dafür tue,
meinen Bruder ins Ziel zu bringen; er sehnt sich jede Km-Angabe herbei und zählt innerlich
herunter, der Kreislauf macht ihm immer mehr zu schaffen, ihm wird schwarz vor Augen, ich
kann nur ahnen, wie er sich fühlt, .... der Flaschengeist bleibt trotzdem drin.
Km 90: Das Ziel vor Augen
Nur noch 10km, schlimme km, schleppende Schritte, Unsicherheit bei mir, ob das noch in
Ordnung ist, Meinrad so zu ziehen, aber er muss selbst entscheiden, solange er nichts sagt,
werde ich weiter vor und neben ihm gehen, walken und laufen und auf die Uhr achten, wir
liegen gut, es ist uns trotzdem gelungen, ein kleines Polster rauszulaufen, wir machen ein
Foto beim Km 90-Schild und ich bin zufrieden; ich merke, dass Zorn und Wut weniger
geworden sind, dass das Eingestehen des Scheiterns nicht mehr so schmerzhaft ist und
dieser Lauf für mich eine besondere und auch wichtige Erfahrung sein wird: es kann eben
nicht immer alles glatt gehen und das ist auch in Ordnung so.
Ich schicke Jan nach Biel zurück, die letzte Absicherung ist weg, wir müssen jetzt durch; ich
habe weiterhin keine Probleme, es fühlt sich leicht und mühelos an, ich denke, dass es
ungerecht ist und würde meinem Bruder gerne von meiner Energie abgeben.
Die nächsten km ziehen sich und ich habe bisweilen Angst, dass Meinrad umkippt, ... wir
laufen trotzdem weiter. Um uns herum nehme ich erschöpfte LäuferInnen wahr, hinkende
und bisweilen verzweifelt wirkende Menschen, die wie wir auch trotzig Biel entgegen gehen.
Ein Paar geht vor uns, händchenhaltend in aller Ruhe, ein schönes anrührendes Bild!
Km 95: Fotoshooting
Soviel Zeit muss sein, wir werden es schaffen, soviel steht (zumindest für mich) fest, die
letzten Verpflegungsstellen sind vorbei, aber diese km ziehen sich endlos, jeder kleine Hügel
muss sich wie der Mont Everest für meinen Bruder anfühlen, er holt das Letzte aus sich
heraus und ich sehne mir für ihn die nächsten km-Angaben herbei, ich weiß er kann nicht
mehr lange.
Km 99: Fast geschafft
Meinrad wird wieder lebendig, er weiß, dass er es fast geschafft hat, wir verabreden den
Zieleinlauf und ich beginne mich zu freuen, darüber, dass wir ankommen werden, also doch
gemeinsam, wir traben die letzten Meter, sehen vertraute Gesichter und freuen uns,
Umarmungen und eine stille, aber große Verneigung vor einem Kämpfer und Stolz darüber,
einen solchen Bruder zu haben.
Km 100: na ja, ich hab die 100 dann am Sonntag zuhause im Wald mit meinem Hund voll
gemacht, hatte ja immer noch unverschämt gute Beine und das Gefühl, noch was zu Ende
bringen zu wollen. Letztlich war es ein versöhnlicher Abschluss, das Einlaufen in Biel mit all
den Menschen hatte schon etwas Besonderes, auch wenn ich kein Finisher bin. Biel und die
gemachten Erfahrungen werden mich sicherlich noch eine Weile beschäftigen, der Mythos
der 100km ist für mich nicht zu Ende, ich werde diese Grenze irgendwann überwinden und
ich weiß, was ich dafür brauche werde und dafür war Biel ganz wichtig für mich. Zu keinem
Zeitpunkt habe ich die Laufschuhe gedanklich an die Wand genagelt und das heißt für mich:
... und was steht als nächstes an? Der Mount Blanc Ultra Trail und ehrlich ich freue mich
riesig drauf, weiß jetzt schon, dass ich davor wieder schreckliche Angst bekomme, Zweifel
haben werde, aber das kenne ich schon, es wird trotzdem oder gerade deswegen wieder ein
wunderbares Erlebnis mit meinen LauffreundInnen, ... vielleicht berichte ich darüber?


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